Bei jedem Menschen gestalten sich der individuelle Kompetenzerwerb und die soziale Teilhabe im wechselseitigen Zusammenspiel von persönlichen Gegebenheiten und sozialem Umfeld. Für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung ergeben sich in diesen Prozessen unterschiedliche Erschwernisse.
Ebenso wie Kinder und Jugendliche ohne Beeinträchtigungen kommen Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung mit vielfältigen Vorerfahrungen in die Schule. Ihre Biografien sind gekennzeichnet vom Aufwachsen in unterschiedlichen familiären und soziokulturellen Situationen (z. B. Lebensumfeld außerhalb der Familie, Aufwachsen mit nur einem Erziehungsberechtigten, Migrationshintergrund) und von Lernerfahrungen, die sie in verschiedenen vorschulischen Einrichtungen (z. B. Frühförderung, Schulvorbereitende Einrichtung, Kindertagesstätte) sowie bisweilen auch in unterschiedlichen Schulen (Grundschule, Mittelschule, Förderzentrum mit einem anderen Förderschwerpunkt) gemacht haben. Auch aufgrund dieser differenzierten Ausgangslagen verfügen Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung über höchst unterschiedliche Entwicklungspotenziale. Für die Verwirklichung ihrer Möglichkeiten benötigen sie Unterstützung in individuell angemessener Form und Intensität.
Diese Unterstützung erfolgt im Hinblick auf unterschiedliche Lebensvollzüge und Lernprozesse:
Viele der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung sind in der Lage, sich mit komplexen Bildungsinhalten auseinanderzusetzen, benötigen dabei jedoch Unterstützung durch angepasste methodisch-didaktische Vorgehensweisen. Für andere Schülerinnen und Schüler erstreckt sich der Unterstützungsbedarf auf die Bewältigung von Alltagshandlungen. Manche Kinder und Jugendliche mit diesem Förderbedarf sind auf Hilfe bei der Kontaktaufnahme mit ihrer Umwelt, bei der Nahrungsaufnahme und Pflege angewiesen.
Manche Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen mit einem zusätzlichen Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung fallen auf, wirken unangemessen und stellen häufig eine Herausforderung dar. Dem pädagogischen Handeln im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung liegt das Verständnis zugrunde, dass eine Einordnung von Verhalten immer aufgrund einer spezifischen und individuellen Erwartungsnorm erfolgt. Aus Sicht der Schülerinnen und Schüler kann ihr persönliches Empfinden und Handeln als angemessen angesehen werden. Diese subjektiv empfundene Sinnhaftigkeit aller emotionalen und sozialen Äußerungen muss von Lehrerinnen und Lehrern erkannt und berücksichtigt werden. Jede Handlungsweise ist zunächst als Fähigkeit zu begreifen, die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt, beeinträchtigende Bedingungen in ihr Leben und ihre Persönlichkeit zu integrieren und sich Welt anzueignen. Eine verständnisvolle Haltung der Lehrkräfte, klar strukturierte und für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbare Umfeldbedingungen sowie eine systematische Verhaltensbeobachtung und -dokumentation sind Grundlage für die Erarbeitung von individuellen oder standortbezogenen Konzepten für Erziehung und Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit einem zusätzlichen emotionalen und sozialen Förderbedarf.
Sowohl die personenspezifischen als auch die kontextbezogenen Gegebenheiten, in deren Zusammenspiel Lernen stattfindet, gelten als veränderbar. Die Lehrerinnen und Lehrer lenken den Blick auf noch nicht entwickelte oder nicht offensichtlich wahrnehmbare Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler und beziehen das individuelle Lern- und Lebensumfeld ein. Sie beobachten sensibel, um individuelle Chancen zu erkennen und diese zum Ausgangspunkt für Erziehung und Unterricht zu machen.
Im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wird die Gestaltung von Lernprozessen von dem Grundsatz geleitet, dass Menschen mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung die gleichen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben wie Menschen ohne Förderbedarf. In der gesamten Entwicklung bilden körperliche Gegebenheiten, kognitive Fähigkeiten, emotionale Befindlichkeiten und soziale Kompetenzen eine Einheit. Jeder Lernschritt ruft immer Veränderungen in allen Bereichen des Handelns und Verhaltens hervor. Bei diesen Prozessen sind die Schülerinnen und Schüler auf verlässliche soziale Bindung angewiesen. Als Vertrauenspersonen unterstützen die Lehrkräfte die Kinder und Jugendlichen dabei, Veränderungen und neu erworbene Kompetenzen in ihre Handlungsschemata zu integrieren und für sie gewinnbringend zu nutzen sowie soziale Bindung aufzubauen.