Erziehung, Unterricht und Förderung orientieren sich an den individuellen Unterstützungs- und Förderbedürfnissen der einzelnen Schülerin, des einzelnen Schülers und haben neben dem Erwerb der Kompetenzen der allgemeinen Schule die Ausbildung entwicklungsbezogener Kompetenzen in den Bereichen Motorik und Wahrnehmung, Denken und Lernstrategien, Kommunikation und Sprache und Emotionen und Soziales Handeln zum Ziel. Das Förderzentrum besuchen Kinder und Jugendliche deren Sehvermögen herabgesetzt oder nicht vorhanden ist. Sie stehen vor besonderen Herausforderungen hinsichtlich des Lebens und Lernens mit den dadurch veränderten Wahrnehmungsvoraussetzungen.
Visuelle Beeinträchtigungen entstehen auf Grund von verschiedenen Schädigungen:
- Schädigung des Auges in seiner Funktion als Organ für die Aufnahme von Sehreizen
- Schädigung der Nerven und Sehbahnen, die aufgenommene Reize weiterleiten
- Schädigung der Bereiche im Gehirn, die für die Verarbeitung von Sehreizen zuständig sind
Eine Sehbehinderung liegt dann vor, wenn das Sehvermögen (= Visus) mit bestmöglicher Korrektur auf mindestens 0,3 auf dem besseren Auge herabgesetzt ist. Es wird unterteilt in:
- Sehbehinderung: Visus ≤ 0,3
- hochgradige Sehbehinderung: Visus <= 0,05
- gesetzliche Blindheit: Visus ≤ 0,02
- Einengung des Gesichtsfeldes auf <= 5 Grad
Eine visuelle Wahrnehmungsstörung (cerebral visual impairment bzw. cerebral bedingte Sehbeeinträchtigung) ohne und mit okulärer Schädigung kann gleichfalls starke Auswirkungen auf das Sehvermögen haben, z. B. Gesichtsfeldeinschränkungen, Visusminderung, Trennschwierigkeiten, Raumlage- und Orientierungsstörungen, Farbsinnstörung und Herabsetzung des Kontrastsehvermögens.
Die Beeinträchtigungen, die sich evtl. aus einer Sehschädigung ergeben, sind im Einzelfall durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. Der Zeitpunkt des Eintritts der Sehschädigung, die Dauer ihres Bestehens, die verbliebene Sehfähigkeit, das Selbstkonzept des Kindes oder Jugendlichen sowie seine individuellen Lern- und Leistungsvoraussetzungen sind wichtige Faktoren. Auch bereits durchgeführte Fördermaßnahmen sowie die Versorgung mit technischen und elektronischen Hilfsmitteln sowie die Einstellung und das Verhalten von Bezugspersonen, familiäre Lebensbedingungen sowie soziale und kulturelle Einflüsse haben Auswirkungen auf den Umgang mit der Sehschädigung. Ausschlaggebend ist, wie die Schülerinnen und Schüler ihr vorhandenes Sehvermögen einsetzen und in ihrem Alltag nutzen. So sind der Einsatz und das Wissen um das vorhandene funktionale Sehen von großer Bedeutung.
Auswirkungen von Sehschädigungen auf den Bereich der Wahrnehmung
Art und Grad der individuellen Seheinschränkung haben verschiedene Auswirkungen auf die visuelle Wahrnehmung, so dass Schülerinnen und Schüler bisweilen in einem begrenzten Sehraum mit für sie selbst unter Umständen schwer deutbaren Seheindrücken leben. Schülerinnen und Schüler erwerben Strategien und Kompetenzen, um ihr funktionales Sehen individuell zu erweitern, mit der Wirklichkeit abzugleichen und die eigenen visuellen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen.
Ein Ausfall visueller Funktionen bedingt die Möglichkeiten der taktilen Wahrnehmung. Taktile Wahrnehmung erfordert ein sukzessives Erfassen und damit ein hohes Maß an Zeit, Konzentration sowie bewusste Willensanstrengung zur aktiven Zuwendung und handelnden Auseinandersetzung. Verbunden ist damit häufig zunächst die Erfahrung und später das Bewusstsein, dass empfindliche, zu große oder zu kleine, zerbrechliche, zu schnell verformbare, taktil unangenehme oder gefährliche Gegenstände, aber auch sich rasch bewegende Objekte nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen werden können. Schülerinnen und Schüler erwerben bei Bedarf kompensatorische Strategien, die ihnen auch als Ersatz für das intuitive Lernen durch optische Nachahmung dienen.
Auswirkungen von Sehschädigungen auf den Entwicklungsbereich Motorik
Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Sehen sind in ihrer motorischen Entwicklung mit Herausforderungen konfrontiert, die in verringerten Bewegungserfahrungen und damit einhergehend Bewegungsunsicherheit und -gehemmtheit sowie Ängstlichkeit in Bezug auf die Orientierung bestehen können. Ein Mangel an visuell-räumlichen Erfahrungen hat Einfluss auf das Bewegungsverhalten, die Grob- und Feinmotorik, die Körperwahrnehmung, die Körperhaltung und die Bewegungskoordination. Schülerinnen und Schüler erwerben mit Anleitung und Unterstützung durch die Lehrkraft und mithilfe zahlreicher Erfahrungen Sicherheit in vielfältigen motorischen Handlungsfeldern.
Auswirkungen von Sehschädigungen auf den Bereich emotionale und soziale Entwicklung
Einschränkungen des Sehens haben oft Einfluss auf die soziale Interaktion. Missverständnisse bei der Anbahnung und Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten ergeben sich durch Schwierigkeiten bei der Interpretation von Mimik und Gestik, bei der Aufnahme und Aufrechterhaltung des Blickkontakts zum Gesprächspartner sowie beim Einsatz von Körpersprache, Mimik und Gestik. Schülerinnen und Schüler zeigen sich sensibel für diese Herausforderungen und erwerben im schulischen Kontext Kompetenzen, sich körperlich bewusst auszudrücken sowie die Körpersprache anderer Personen soweit wie möglich zu deuten und so Kommunikation und Interaktion erfolgreich zu gestalten. Schwierige Erfahrungen und Missverständnisse im sozialen Bereich führen bei Schülerinnen und Schülern oft zu Unsicherheit und haben Einfluss auf das Selbstwertgefühl und den Umgang mit individuellen Einschränkungen. Darüber hinaus äußern sich Fehleinschätzungen des eigenen Sehvermögens und der Leistungsfähigkeit in Gefühlen von Unter- oder Überforderung. Im wertschätzenden positiven Umgang miteinander, mit der individuellen Sehschädigung und durch die Erfahrung der Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit werden die Schülerinnen und Schüler in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt. Sie bauen Kompetenzen und Fähigkeiten auf, um ihre eigenen Fähigkeiten und Grenzen realistisch zu beurteilen, Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Entwicklungsbereich zu begegnen und diese erfolgreich abzubauen.
Das Förderzentrum für den Förderschwerpunkt Sehen versteht sich als Lernort, der die im Folgenden erläuterten Bildungs- und Erziehungsziele anstrebt.
Förderung der Wahrnehmung
Wahrnehmungsförderung setzt am individuellen funktionalen Sehvermögen der Schülerinnen und Schüler an. Die Förderung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit zielt auf eine Verbesserung der visuellen Aufmerksamkeit und Konzentration, des visuellen Gedächtnisses, der raschen und präzisen Erfassung und Erkennung von Objekten, Formen, Gesichtern, Farben und Situationen, der Raumwahrnehmung, der Auge-Hand-Koordination, der Einschätzung von Entfernungen, Linien, Bewegungen und Größen sowie der Wahrnehmung der sprachbegleitenden Kommunikation, wie Körpersprache, Mimik und Gestik. Dabei beziehen Schülerinnen und Schüler auch die Wahrnehmungsfähigkeiten anderer Sinnesbereiche mit ein. Sie erkennen und nutzen die Vorteile strukturierter Sehumwelten, die durch Beleuchtung, Kontrast, Angebot von Sehhilfen, sowie individuell unterstützende Hilfen zur eigenaktiven Nutzung des individuellen Sehvermögens geschaffen werden.
Blinde Schülerinnen und Schüler nehmen gezielt taktilen Kontakt zu Objekten ihrer Umwelt auf, um haptische Eindrücke zu gewinnen oder diese zu vertiefen. Sie nutzen unterschiedliche haptische Merkmale zur Unterscheidung und Erkennung von Gegenständen.
Erkundungshandlungen von blinden Kindern und Jugendlichen werden in Anpassung an Alter und Entwicklungsstand initiiert und so angeleitet, dass positive Erfahrungen im Vordergrund stehen, um z. B. Tastscheue zu vermeiden.
Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Sehen sind sich bewusst, dass die auditive Wahrnehmung einen kompensierenden Zugang zur Umwelt, zum Beispiel zur Identifikation von Schallereignissen oder zur räumlichen Orientierung, bietet und setzen diese gezielt ein.
Förderung motorischer Fähigkeiten und des ästhetischen Empfindens
Bewegung ist die Grundlage dafür, sich in der Welt zu erfahren und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Bewegungserfahrungen vermitteln dem Menschen vielfältige Informationen über Räume und Dimensionen, über Gegenstände und deren Qualitäten, sowie über sich selbst. Vielfältige Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Handlungserfahrungen unterstützen die Ausbildung des Selbst- und Umweltverständnisses sowie die Begriffsbildung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler. Rhythmik, Bewegungserziehung, Rollenspiel, Musik, Tanz und Theater bieten Schülerinnen und Schülern im Förderschwerpunkt Sehen Freiräume für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Sie erwerben Kompetenzen im Bereich der Bewegungssteuerung, Körperwahrnehmung und Körperhaltung sowie in Bezug auf selbstbewusstes Auftreten. Sie erleben emotionales Wohlbefinden durch bildnerisches Gestalten oder durch Musik und erfahren dies auch als Entlastung bei lang andauernder Seh- oder Tastanforderungen.
Schrift- und Mediennutzung
Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Sehen erlernen je nach individueller Seheinschränkung die Punkt- oder die Schwarzschrift als Gebrauchsschrift. Sie wenden dafür in der Regel ein hohes Maß an Zeit auf und nutzen besondere, individuell ausgewählte Verfahrensweisen, Hilfsmittel und Materialien. Je nach individuellem Sehvermögen erwerben einzelne Schülerinnen und Schüler auch beide Schriftsysteme. Schriftsprache wird in allen Bereichen als Kommunikations- und Informationsträger erfahren und bleibt nicht auf schriftliche Druckerzeugnisse begrenzt. Im Umgang mit neuen digitalen Medien werden grundlegende Kompetenzen sowie Kriterien für die Auswahl der Hard- und Software nach blindenspezifischen und sehbehindertengerechten Kriterien vermittelt. Durch den Erwerb von Kompetenzen im Bereich der förderschwerpunktspezifischen Mediennutzung erschließen sich Schülerinnen und Schüler zunehmend eigenständig die Welt. Eine Medienbildung, die die visuellen Einschränkungen der Schülerinnen und Schüler bei der entwicklungsgemäßen Nutzung digitaler und interaktiver Medien sowie deren Chancen als Hilfsmittel berücksichtigt, ist Grundlage für aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und besonders der Berufswelt. Informationstechnische Grundbildung und Medienerziehung ist die Basis für den Umgang mit unterschiedlichen digitalen Medien.
Soziale Handlungsfähigkeit
Das Verständnis von der Welt ist bei Kindern und Jugendlichen mit dem Förderbedarf Sehen meist von individuellen Seh- und Tasterfahrungen geprägt. In der Kommunikation mit der Umwelt erfahren sie häufig, dass ihre Art wahrzunehmen und ihr Erfassen von Zusammenhängen der Ergänzung bedürfen. Schülerinnen und Schüler werden darin unterstützt, Vertrauen in Wahrnehmungs- und Handlungsstrategien aufzubauen und Unsicherheiten und Ängste zu überwinden. Neben dem Aufbau eines realistischen Selbstkonzepts und der Stärkung des Selbstwertgefühls schulen die Schülerinnen und Schüler gezielt und mit wertschätzender Unterstützung ihre sozialen Handlungs- und Interaktionsfähigkeiten. Sie nehmen Normen und Klischees in der Gesellschaft auch in Bezug auf ihre eigene Lebens- und Berufssituation bewusst wahr, reflektieren sie und handeln verantwortlich für sich und andere.
Orientierungs- und Mobilitätstraining
Mobilitätsschulung ist für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Sehen ein Baustein ganzheitlicher Förderung. Sie lernen, sich in Abhängigkeit von ihren individuellen visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten selbständig zu bewegen sowie sich in bekannten und unbekannten Räumen zu orientieren. Die vorhandenen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Bereich der Orientierungsfähigkeit werden gestärkt sowie kompensatorische Strategien vermittelt. Schülerinnen und Schüler wenden erworbene Fähigkeiten im Alltag an und bauen sie so kontinuierlich mit dem Ziel der möglichst großen Selbstbestimmung weiter aus. Die Trainer aus dem Rehabilitationsbereich Orientierung und Mobilität stimmen weitgehend alle Bildungsinhalte mit Bezugspersonen aus Schule, Elternhaus, heilpädagogischem Internat und heilpädagogischer Tagesstätte ab.
Training „Lebenspraktische Fertigkeiten“
Schülerinnen und Schüler erwerben Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, den Alltag weitgehend sicher und selbständig zu bewältigen und soziale Abhängigkeit zu verringern oder zu vermeiden. Die aktuelle Lern- und Lebenssituation, sowie die Einschätzung der Fähigkeiten und Stärken aber auch der Grenzen, die sich aus der individuellen Seheinschränkung der Schülerinnen und Schüler ergeben, bilden die Grundlagen für die Auswahl von Inhalten und Techniken zur Bewältigung von Alltagsaufgaben. Schülerinnen und Schüler erweitern und verfeinern ihre grob- und feinmotorische Fähigkeiten sowie ihr Vorstellungsvermögen und ihre Begriffsbildung. Sie schulen ihre Orientierungsfähigkeit, nutzen die Wahrnehmungseindrücke anderer Sinne und wenden spezifische oder adaptierte Hilfsmittel sicher an. Einfache, altersentsprechende Fertigkeiten aus verschiedenen Bereichen bilden die Grundlage für den Erwerb von Alltagskompetenzen.